Warum Wissenschaftler einer Maus ein Ohr ansetzen
Die „Vacanti-Maus“. Die „Ohrmaus“. Das freakige Ding, das Sie in einem Biologie-Lehrbuch oder einer E-Mail-Kette gesehen haben. Wie auch immer Sie sie nennen, eines ist sicher: Die Maus mit dem Ohr auf dem Rücken ist eine Ikone der Wissenschaft, und das schon seit mehr als 20 Jahren.
Vielleicht steht sie sogar für verrückte Wissenschaft. Doch viele missverstehen, wie und warum die Maus überhaupt entstanden ist.
Warum Wissenschaftler der Maus ein Ohr ansetzten
In den späten 90er Jahren wollten die Ärzte Charles Vacanti, Joseph Vacanti und Bob Langer menschliche Körperteile im Labor herstellen. Sie hatten damit experimentiert, „biologisch abbaubare Gerüste“ oder Strukturen, die sich in einem Körper auflösen würden, in verschiedenen Formen herzustellen. Eines Tages hörte Joseph Vacanti, wie sich sein Kollege beklagte, dass es so schwierig sei, neue Ohren für Patienten zu schaffen, denen sie fehlen, da Ohren so eigenartige und komplizierte Formen haben. Da beschloss er, ein Gerüst in der Form eines menschlichen Ohrs herzustellen.
Das Gerüst formen
Die Forscher erstellten ein ohrförmiges Gerüst und setzten darauf Knorpelzellen von einer Kuh. Knorpel ist eine Art halbstarres Gewebe, das in den Ohren, der Nase und der Brust zu finden ist.
Dann nahmen die Wissenschaftler einen Mäusestamm, der immungeschwächt war, was bedeutet, dass er kein Immunsystem hatte, das die fremden Kuhzellen angreifen würde. Sie setzten die Maus unter Narkose, machten einen chirurgischen Einschnitt und platzierten die Ohrform unter ihrer Haut.
KURTESY DES LABORS FÜR TISSUE ENGINEERING UND ORGAN FABRICATION, MASSACHUSETTS GENERAL HOSPITAL, BOSTON, MA, USA, DR. JOSEPH P. VACANTI, DIRECTOR
Wie vorhergesagt, fütterte das System der Maus die Kuhknorpelzellen, und als sich das Gerüst auflöste, blieb der Maus die künstliche Form eines menschlichen Ohres. Allerdings war es nur der äußere Teil des Ohrs ohne Trommelfell, was die Funktion des Ohrs völlig überflüssig machte.
Dann wiederholten die Forscher den Vorgang immer wieder, wie sie es bei Experimenten oft tun. „Es gab viele, viele Tiere, denn es war Wissenschaft“, sagt Vacanti. Das bedeutet, dass die ikonische Ohrmaus nur eine von vielen Ohrmäusen war!
Als die Wissenschaftler wichtige Ergebnisse hatten, veröffentlichten sie eine Studie in der Zeitschrift Plastic and Reconstructive Surgery.
Gerüchte und Hoaxes
Im Jahr 1998 strahlte die BBC eine Sendung mit einer Ohrmaus im Trailer aus. Und die Welt war, gelinde gesagt, fassungslos. Viele waren beeindruckt von den wissenschaftlichen Leistungen, aber einige waren besorgt und ließen Gerüchte und Erklärungen Amok laufen.
Im Jahr 1999 schaltete eine Gruppe eine ganzseitige Anzeige in der New York Times mit einem Bild der Maus und der Frage: „Wer spielt Gott im 21. Jahrhundert?“ Die Anzeige suggerierte, dass die Maus ein Produkt der Gentechnik sei, doch das ist falsch. In der Anzeige heißt es auch, dass Biotech-Firmen „munter Bestandteile von Menschen und anderen Lebewesen entfernen und uns alle wie Autoteile auf einer Tauschbörse behandeln“
Die Ohren der Mäuse stammten jedoch weder von noch an einem Menschen. Stattdessen war das Projekt an den Mäusen als Übung gedacht. Wenn die Ärzte diese Technik bei Mäusen und dann bei großen Tieren perfektionieren könnten, könnten sie vielleicht eines Tages Menschen helfen, ihre eigenen fehlenden Körperteile wachsen zu lassen.
Hilfe für Menschen heute
Die Vacanti-Maus war nicht einfach eine Übung, um Schrecken im Stil von Kronenberg zu erzeugen. Sie sollte Wissenschaftlern helfen zu verstehen, wie man Körperteile beim Menschen züchten kann – mit eigenen Haut- und Knorpelzellen.
Im Januar 2018 veröffentlichten Ärzte in China und Japan eine Studie, die zeigt, dass ihnen genau das gelungen ist. Zweieinhalb Jahre zuvor hatten sie Kinder mit jeweils einem fehlgebildeten Ohr rekrutiert. Die Wissenschaftler scannten deren normale Ohren, kehrten die Form am Computer um und druckten ein neues, biologisch abbaubares Gerüst in 3D. Sie fügten Knorpelzellen von ihren Patienten hinzu und brachten die Gerüste unter die Haut. Als Ergebnis haben die Kinder nun zwei Ohren, die größtenteils normal sind.
Ohne die seltsame, rosafarbene Maus aus dem Biologie-Lehrbuch hätte es diese Art von medizinischem Fortschritt vielleicht nie gegeben.
Von Kristin Hugo, Mitarbeiterin bei Ripleys.com
Kristin Hugo ist Wissenschaftsjournalistin und hat für National Geographic, Newsweek und PBS Newshour geschrieben. Sie ist besonders erfahren in der Berichterstattung über Tiere, Knochen und alles, was seltsam oder eklig ist. Wenn sie nicht schreibt, sprüht Kristin Farbe und reinigt Knochen in ihrem Garten in New York City. Sie finden sie auf Twitter unter @KristinHugo, auf Tumblr unter @StrangeBiology und auf Instagram unter @thestrangebiology.